Du bist Vorsitzende von BAUM e. V., warst Stellvertretende Generalsekretärin des Rates für Nachhaltige Entwicklung und Leiterin des Büros Deutscher Nachhaltigkeitskodex. Was hat dich zum Thema Nachhaltigkeit gebracht?
Mein Einstieg in das Thema war die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ von 1996. Mein Jugendverband hat damals beschlossen, aus dieser „grünen Bibel“ (Spiegel) von BUND und Misereor einen thematischen Jugendtag zu machen, und ich durfte mich um das Thema nachhaltige Konsum- und Lebensstile kümmern. Das war sozusagen der Anfang einer wunderbaren Freundschaft, dann hat mich das Thema immer tiefer reingezogen. Denn wer über nachhaltigen Konsum nachdenkt, landet schnell bei der Verantwortung von Unternehmen – und bei der Frage, wie sie ihre Kund:innen nicht nur beliefern, sondern in echte Partnerschaften einbinden können. Nutze mein Produkt richtig und du sparst Geld, gemeinsam schonen wir die Umwelt, stärken deine Gesundheit.
Für mich war das also nie eine lineare Karriereentscheidung, sondern eher ein Springen vom Hölzken aufs Stöcksken. Und genau dieser Weg macht’s für mich bis heute spannend: weil überall neue Türen aufgehen, wenn man das Thema ernst nimmt.

In deinem neuen Buch „Nachhaltigkeit machen“ erarbeitest du für jedes der 17 SDGs Thesen für den Wandel und gibst Handlungsideen. Welche kleine Veränderung hätte, wenn sie viele Menschen gleichzeitig umsetzen, den größten Hebeleffekt?
Wenn ich eine kleine Veränderung herausgreifen soll, die richtig viel bewegen kann, dann ist es: anfangen – und zwar bewusst, sichtbar für viele und gemeinsam. Das klingt simpel, ist aber der zentrale Hebel. Die größte Gefahr für das Gute ist die Vereinzelung. Viele unterschätzen, wie viel Wirkung entsteht, wenn viele Menschen gleichzeitig Dinge anders machen und angehen.
Ein Beispiel aus dem Buch: nachhaltige Ernährung. Wenn wir uns alle ein Stück pflanzenbasierter ernähren, dann spart das nicht nur Emissionen, sondern senkt auch Gesundheitskosten und stärkt die Resilienz unserer Ernährungssysteme. Das ist ein klassischer Kaskadeneffekt. Was im Einkaufskorb beginnt, wirkt sich auf Landwirtschaft, Märkte und Gesundheitssysteme aus.
Die Theorie der gesellschaftlichen Kipppunkte lässt mich an den Wandel glauben. Sie zeigt, dass Veränderungen selten linear verlaufen: Oft passiert lange scheinbar nichts, bis bestimmte Schwellenwerte erreicht sind – dann geht alles plötzlich sehr schnell. Rückschläge gehören dazu, aber sobald eine „kritische Masse“ erreicht ist, setzt Dynamik ein. Sichtbare Veränderungen beginnen schon bei 17 % gesellschaftlicher Unterstützung, und bei rund 25 % gewinnt ein Wandel spürbar an Fahrt. Das erklärt, wie aus Randideen breite gesellschaftliche Bewegungen werden – etwa beim nachhaltigen Wirtschaften, bei Solaranlagen, der beliebten Wärmepunkte und E-Mobilität. Wenn wir als engagierte Minderheit gut vernetzt Unternehmen für ambitionierte Nachhaltigkeit gewinnen, kann sich der Marktmechanismus in Bewegung setzen: nachhaltige Finanzierung wird zur Norm, der EU Green Deal bekommt Rückenwind und Unternehmen mit positivem Impact bekommen Zulauf.
Kurz gesagt: Der größte Hebel entsteht da, wo individuelles Handeln in kollektive Dynamik kippt. Der berühmte Berg kommt ins Rutschen, wenn viele gleichzeitig anschieben – viele Impulse vermögen viel. Ich bin zuversichtlich, dass wir als Gesellschaft weiter sind, als uns die Rückschläge glauben machen.
Du kritisierst die Behäbigkeit von Behörden und behördlichen Abläufen und forderst eine digitalisierte, zukunftstaugliche Verwaltung. Wie schaffen wir die richtigen Rahmenbedingungen? Wo sollten wir uns in Deutschland am dringendsten etwas abschauen?
Behördenbehäbigkeit mausert sich zum echten Risiko: Sind Verwaltungsprozesse nicht agil, transparent und digitalisiert, verzögern sich Maßnahmen. Nordische und baltische Länder zeigen, wie es geht: Dänemark, Estland, Lettland und Litauen setzen auf das Modell „Zielvorgabe mit Handlungsspielraum“. Dabei wissen Behörden und Mitarbeitende genau, welches Ziel erreicht werden soll. Zugleich haben sie die Flexibilität, selbst zu entscheiden, wie sie es umsetzen. Übrigens auch Unternehmen mit ihren Beiträgen zum Erreichen der Klimaziele. Das fördert Eigenverantwortung, Innovationskraft und praxisnahe Lösungen, statt detailreicher Vorschriften.
Verwaltung, die nicht bremst, sondern stärkt setzt auf klare strategische Leitlinien gekoppelt mit digitalen, interoperablen Systemen. Besonders dringlich ist dies in Bereichen der Daseinsvorsorge, Energie- und Wassermanagement, Klimaanpassung und Gesundheitsversorgung, wo Behäbigkeit direkt die Sicherheit und Resilienz der Gesellschaft betreffen. Estland etwa hat eine digitale Infrastruktur aufgebaut, die Bürger:innen und Unternehmen ermöglicht, Verwaltungsprozesse online, transparent und in Echtzeit zu erledigen – vom Steuerbescheid bis zu Sozialleistungen. Man stelle sich vor: Unternehmensgründungen machen dort Spaß! Davon könnten wir hier auch eine Schippe brauchen.

Vorsitzende von BAUM e. V.
Ehemalige Stellvertretende Generalsekretärin des Rates für Nachhaltige Entwicklung und Leiterin des Büros Deutscher Nachhaltigkeitskodex. Mitglied im Kuratorium der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis.
Den Schutz der Ozeane bezeichnest du als Überlebensfrage für die Menschheit. Wie kommen wir da als Weltgemeinschaft mal ans Handeln?
SDG 14 mahnt uns eindringlich, Meere und Meeresressourcen nachhaltig zu erhalten und zu nutzen. Auch wenn internationale Verhandlungen, wie zuletzt zur Plastikkrise, gescheitert sind, dürfen wir nicht resignieren. Wir brauchen jetzt eine „Blaue Revolution“: Meeresschutzgebiete konsequent ausweisen, industrielle Überfischung stoppen, Plastik konsequent aus den Meeren zurückholen und die Ozeane regenerieren lassen.
Handeln müssen alle: Staaten und Regierungen, die Meeresschutzgebiete einrichten, Gesetze verschärfen und internationale Abkommen umsetzen; Unternehmen, die auf Plastik, industrielle Überfischung und ressourcenintensive Praktiken verzichten; Wissenschaft und Forschung, die Lösungen entwickeln und Daten bereitstellen; und jede:r Einzelne, durch bewussten Konsum, Müllvermeidung und politisches Engagement. Nur wenn alle Ebenen zusammenwirken, kann die „Blaue Revolution“ Realität werden.
Vorbilder wie der Segler und Wissenschaftler Boris Herrmann oder die Unternehmerin Dr. Katrin Schuhen zeigen, wie man Forschung, Bildung und Technologie für den Meeresschutz einsetzen kann. Es geht nicht um perfekte Lösungen, sondern um konsequente Schritte, Vernetzung und Sichtbarkeit. Klimaschutz ist Meeresschutz – und umgekehrt. Die Zeit zu handeln ist jetzt, bevor Kipppunkte erreicht werden, ab denen sich Schäden nicht mehr rückgängig machen lassen.

Ein wesentliches Problem in Sachen Nachhaltigkeit ist, dass wir eigentlich sehr viele Dinge sehr schnell und parallel tun müssten. Was müssen wir priorisieren?
Rückfrage: Wer ist „wir“? Wir sind keine homogene Masse, sondern wirken in ganz unterschiedlichen Bereichen, mit je eigenen Ansatzpunkten und Wirkungsbereichen. Die Autor:innen von Earth for All Deutschland gehen davon aus, dass wir alle Bereiche gleichzeitig angehen müssen und dass, wenn wir das tun, die Veränderung umso leichter fallen wird. Wir sollten die Komplexität annehmen und uns in die Arbeit stürzen. Entscheidend ist, dass jede:r von uns dort aktiv wird, wo er oder sie Einfluss hat, und nachhaltige Entwicklung voranbringt. Wenn viele ihren Beitrag leisten, entsteht ein kollektiver Effekt, der die Transformation beschleunigt, ohne dass jede:r alles gleichzeitig perfekt umsetzen müsste. Die Schwerpunktsetzung kommt so fast von allein. Priorität hat, was leichtfällt, dann geht es schrittweiße ans Eingemachte. Die letzten 20 % sind immer die aufwändigsten. Realisieren wir also das kluge, naheliegende und arbeiten uns vor!
Der BAUM e. V. engagiert sich seit mehr als 40 Jahren für nachhaltiges Wirtschaften. Wie wichtig sind ESG-Themen derzeit in den Unternehmen? Wie gut funktioniert die Vernetzung?
Zukunftsthemen sind für Unternehmen von zentraler Bedeutung für die strategische Vorausschau und als Innovationsmotor. Das ändert sich nicht, auch wenn derzeit unklare politische Rahmenbedingungen und vulnerable Lieferketten Unternehmen vor Herausforderungen stellen.
Die Vernetzung und der Austausch unter Unternehmen sind essenziell, um voneinander zu lernen und gemeinsame Lösungen zu entwickeln. BAUM e. V. fördert den kollegialen Austausch und Wissensformate. Dazu organisieren wir Events und Tagungen, die als Plattformen für den Dialog und die Zusammenarbeit dienen. Das ist überhaupt das Wichtigste: erprobtes Wissen, das betriebswirtschaftlich überzeugt, fließen zu lassen. Weitere Formate sind die Digitale Akademie, praxisnahe Schulungen und der Digitale BAUM, eine Plattform für Kommunikation, Veranstaltungen und Projektentwicklung. Als Verband unterstützt BAUM e. V. die Transformation konkret, indem er Unternehmen mit wissenschaftlicher Expertise, praxisnahen Ansätzen und einem starken Netzwerk begleitet.
