Frau Hinz, wie hat sich die Beschäftigung mit Nachhaltigkeitsthemen bei der BARMER entwickelt und wie prägt das Thema die Organisation?
Schon 2016 haben wir den ersten DNK-Bericht veröffentlicht, damals noch bezogen auf Personalthemen. Seitdem lag der Fokus zunächst auf der Reduktion des CO2-Ausstoßes, unter anderem durch erste Maßnahmen wie den Bezug von Ökostrom, später auch auf der Nutzung grüner Rechenzentren. Diese Perspektive haben wir kontinuierlich ausgeweitet und uns auch immer stärker mit sozialen und organisatorischen Aspekten der Nachhaltigkeit beschäftigt, etwa mit mobiler Arbeit, wodurch wir Büroflächen reduzieren und unseren Fußabdruck verringern können.
Im Jahr 2020 haben wir mit dem Aufbau eines systematischen Nachhaltigkeitsmanagements begonnen. Mittlerweile haben wir Fragen rund um gesunde Arbeit, Diversity, Nachhaltigkeit und Corporate Digital Responsibility in einem Team verortet. Dieses Team arbeitet eng mit dem Vorstand zusammen, setzt integrierte Strategien um und sorgt dafür, dass Themen und Verantwortlichkeiten so weit wie möglich in der gesamten Organisation und in den Führungsstrukturen angegangen werden. So spielt für uns zum Beispiel die Stärkung von Prävention eine große Rolle, hier wollen wir aktiv Akzente setzen. Deshalb haben wir über 150 Kolleginnen und Kollegen aus der Prävention und Gesundheitsförderung in der Weiterbildung „Planetare Gesundheit und Prävention konsequent zusammen denken“ zum Thema geschult und bilden darüber hinaus KlimaCoaches aus, um das Thema intern und extern voranzutreiben. Die KlimaCoaches sollen qualifiziert zu Präventionsmaßnahmen im Kontext Klima beraten, bei der Umsetzung von Gesundheitsförderung Nachhaltigkeit mitdenken und auch intern die Kolleginnen und Kollegen mit Informationen versorgen sowie als Ansprechpersonen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig bauen wir Campus-Standorte auf, wo wir solche Themen bündeln.
Was macht die nachhaltige Transformation im Gesundheitswesen besonders anspruchsvoll und wo sehen Sie Potenziale für die kommenden Jahre?
Eine der größten Herausforderungen ist die mangelnde Verankerung von Klimaschutz im gesamten Gesundheitswesen. Die Erkenntnis, dass da enge Zusammenhänge bestehen, setzt sich nur langsam durch. Eine Studie, die wir gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut durchführen, zeigt beispielsweise, dass nur 18 % der Gesundheitsorganisationen klare Verantwortlichkeiten für den Klimaschutz definiert haben und nur 11 % ihren CO2-Fußabdruck kennen (Studienjahrgang 2023).
Hinzu kommt, dass das Gesundheitswesen sowohl finanziell als auch personell stark unter Druck steht und eine Vielzahl von tiefgreifenden und komplexen Veränderungen bewältigen muss. Der Gestaltungs- und Investitionsspielraum für Nachhaltigkeitsprojekte ist überschaubar. Der Klimaschutz muss daher zu einem Teil der Organisationskultur werden und auf allen Ebenen als strategisches Ziel verankert sein, damit Fortschritte unter diesen Bedingungen stattfinden können. Und wir müssen dafür sorgen, dass die Motivation erhalten bleibt, wenn Dinge sich nicht schnell ändern. Das ist eine Herausforderung im Gesundheitswesen wie in der Gesellschaft. Wir werden viel Durchhaltevermögen bei denjenigen brauchen, die als Motivatoren vorangehen.
Im Gesundheitswesen sind die Prozesse nicht beliebig veränderbar, und es gibt Ziele, die konträr zum Thema Nachhaltigkeit liegen. Existiert da im System selbst eine gewisse Spannung?
In der Tat. Das ist auch ein Grund dafür, warum das Gesundheitswesen mit 5 % Anteil an den Gesamtemissionen einen so hohen Ausstoß an Klimagasen hat. Das Betreiben von Krankenhäusern etwa ist äußerst CO2-intensiv. Es wird innovative Prozesse und Produkte erfordern, um hier Veränderungen zu erreichen, insbesondere im Hinblick auf Einmal- und Hygieneprodukte oder auch Narkosegase. Mit Blick auf unsere eigene Organisation kommt noch hinzu, dass Krankenkassen umfassend regulierte Institutionen sind. Wir können nicht nach Belieben Geld für Nachhaltigkeit in die Hand nehmen. Das regulatorische Gerüst entwickelt sich natürlich weiter. Aber dennoch sind uns gewisse Grenzen gesetzt, innerhalb derer wir agieren müssen.
Was tut die BARMER vor dem Hintergrund dieser anspruchsvollen Bedingungen dafür, dennoch die nachhaltige Transformation im Gesundheitswesen zu fördern?
Wir können keinen direkten Einfluss auf die Prozesse der Krankenhäuser und anderer Einrichtungen im Gesundheitswesen ausüben. Deshalb wollen wir vor allem durch Allianzen und Forschung Veränderungen anstoßen und Wissen vermitteln. Auch fördern wir die Bewegung von der Versorgung in die Prävention. Sie ist zentral für die Zukunft, weil sie das gesamte Gesundheitssystem entlasten und dazu führen wird, dass wir nachhaltiger leben und arbeiten können. Auch deshalb haben wir den DNP Gesundheit mitinitiiert, um Organisationen im Gesundheitswesen zu motivieren und den großartigen Leuchtturmprojekten, die wir im Wettbewerb auszeichnen, zur Sichtbarkeit und Breitenwirkung zu verhelfen.
Bedeutet das, dass die nachhaltige Transformation vor allem als kooperatives Projekt zu sehen ist?
Auf jeden Fall. Und wir brauchen ja nicht nur die nachhaltige Wende im Gesundheitswesen, sondern auch in Bereichen wie Energie, Agrarwirtschaft, Mobilität. Nur wenn wir alle diese ambitionierten Projekte vernetzen, kann die nachhaltige Transformation wirklich funktionieren. Denn die Themen bedingen und beeinflussen einander. Wenn Sie möglichst oft mit dem Fahrrad statt mit dem Auto fahren, ist das sehr wertvoll für die Prävention. Aber dafür brauchen Sie auch eine entsprechende Infrastruktur, Fahrradwege und vieles mehr. Der DNP steht mit seiner breiten Ausrichtung und der Förderung eines branchenübergreifenden Austauschs genau für diese gemeinsame Perspektive.
Verlieren wir durch die fortschreitende Spezialisierung und Ausdifferenzierung die Fähigkeit, multidisziplinär über Herausforderungen zu denken und sektorenübergreifende Strategien zu entwickeln?
Brauchen wir auch eine gegenläufige Bewegung, um große Zusammenhänge zu sehen?
Ja. In der Medizin haben wir uns lange darauf fokussiert, die spitzesten Lösungen zu finden. Dieser Weg ist absolut sinnvoll, führt aber auch dazu, dass man das große Bild aus den Augen verliert. Mittlerweile gibt es Startups, aber auch umfangreiche Konzepte bei den großen Institutionen im Gesundheitswesen, die sich gesundheitlichen Themen wieder ganzheitlich nähern, etwa bei Schmerztherapien. Auch bei Nachhaltigkeit müssen wir ganzheitlich denken, Themen integriert betrachten und kooperativ voranbringen. Einzelne Menschen und Organisationen, die sich auf ihren Fachbereich und Wirkungsradius konzentrieren, können nicht viel bewegen, selbst wenn sie hocheffizient und motiviert arbeiten.
Diese Feststellung gilt erst recht, wenn wir unseren Fokus auf den ganzen Planeten und seine Gesundheit ausweiten, auf das, was inzwischen als „Planetary Health“ bezeichnet wird. Wir können inmitten zerstörter Ökosysteme nicht gesund leben. Dieser Zusammenhang und seine Dringlichkeit sind eigentlich offensichtlich. Besonders vulnerable Gruppen, ältere oder chronisch kranke Menschen, leiden schon heute unter den Veränderungen. In einigen Regionen ist eine funktionierende Landwirtschaft kaum noch möglich, mit gravierenden ökologischen und sozialen Folgen.
Können wir uns erlauben, solange zu warten, bis jeder unmittelbar betroffen ist, oder jemanden persönlich kennt, der betroffen ist? Natürlich nicht. Jeder weiß das. Und dennoch verliert das Thema angesichts akuter Krisen und Herausforderungen an Aufmerksamkeit. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass wir kein großes Bild, kein integrierendes, klares Storytelling für das Thema hinbekommen. Es fällt uns schwer, die Probleme in ihrer Gesamtheit und in ihren Wechselwirkungen zu sehen.
Eine weitere Schwierigkeit scheint darin zu liegen, dass wir als Gesellschaft mit vielen Themen früh dran sind, die Veränderungen dann aber nicht zum Fliegen bringen. Woran liegt es, dass wir so häufig gut starten und dann stecken bleiben?
In einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft müssen wir an konsensfähigen Lösungen arbeiten und mit Prioritätskonflikten konstruktiv umgehen. Das ist nicht immer effizient und die Lösung, auf die man sich am Ende einigt, ist technisch nicht zwingend die stringenteste. Doch die Fähigkeit, in einem fairen Diskurs komplizierte Kompromisse auszuhandeln und viele Perspektiven zu berücksichtigen, ist auch die Grundlage für tragfähige, nachhaltige und innovative Lösungen, ohne die wir keine lebenswerte Zukunft bauen können. Erst recht, weil wir auch Entscheidungen treffen müssen, die weit über unsere Lebensspannen hinausreichen und unsere Nachkommen betreffen werden.
Die Auslobung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises Gesundheit ist bei der BARMER Teil der tiefgreifenden Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsthemen. Welche Impulse konnten Sie durch diese Partnerschaft setzen?
Durch die enge Zusammenarbeit mit der Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen und der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis in diesem wichtigen Anliegen unterstreichen wir nach innen und außen die Bedeutung, die die Arbeit an verschiedenen Aspekten der Nachhaltigkeit für uns hat. Die Auseinandersetzung mit den Nominierten und Ausgezeichneten bietet ebenfalls wertvolle Ansatzpunkte, um sich mit dem Thema zu beschäftigen und neue Perspektiven zu gewinnen. Darüber hinaus erwarten unsere Mitarbeitenden, dass die BARMER sich nachhaltig engagiert, es ist Teil unserer Kultur. Diese neue Zusammenarbeit motiviert die Menschen in der Organisation zusätzlich, Projekte in Angriff zu nehmen und steigert die Akzeptanz von Entscheidungen, die aus der Nachhaltigkeitsperspektive heraus getroffen werden.