Es ist etwas ins Rutschen geraten. Nachhaltigkeit rutscht von der Top-Agenda ab. Das öffentliche Getöse befördert das Thema auf eine ungebremste Abwärtsspirale. Wenn wir in diesem Jahr die Gewinner des Deutschen Nachhaltigkeitspreises veröffentlichen, dann hat das eine ganz neue und unmittelbare Bedeutung: Wir machen das Abrutschen nicht mit. Wir verwechseln den Lärm nicht mit der Lage. Fehlentwicklungen wie die Bürokratisierung der Nachhaltigkeit haben ihren Anteil an der Abwärtsspirale. Gefragt sind jetzt ergebnisorientierte Verfahren und innovative Vorgaben, weniger Verwaltungsautomatik und mehr politische Führung, und vor allem eine kulturelle Neuverortung: Nachhaltigkeit als Gestaltungsauftrag, nicht als Bußübung.
Die neuen Sicherheitsdebatten sind berechtigt. Die Geopolitik, Kriege und handelspolitische Aggressionen, der ubiquitäre KI-Brei, die industrielle Konkurrenz in den einstigen Absatzmärkten Deutschlands – das alles schafft fundamentale Unsicherheit. Eines schafft es aber nicht: Das größte materielle Klumpenrisiko bleibt unverändert das naturverbrauchende Wirtschaften und die Klimafolgen.
Es ist bedrückend: In den USA beenden Unternehmen Klimabündnisse, Diversity-Programme werden zurückgefahren, Umweltauflagen revidiert, Investoren kehren ESG-Strategien demonstrativ den Rücken. Europa ist nicht Washington, aber ökonomisch eng verflochten; neue Zölle testen die transatlantische Geduld. Auch in deutschen Unternehmen geht der Zweifel an Klimastrategien um und die Politik antwortet derzeit nicht auf die Frage, welchen strategischen Weg Europa gehen soll. Deutschland steht verstärkt unter Beobachtung. Wie geht die Energiewende weiter? Welcher Schub ist notwendig? Wie werden Dunkelflauten adressiert? Wie wird der Zappelstrom integriert? Wie wird die Vermögenskonzentration bewertet und wie soll die demokratische Stabilität gewahrt bleiben?
Das intelligente, nachhaltige Wirtschaften hat nicht auf alles eine sofortige Antwort, aber auf vieles. Seine ProtagonistInnen sind offen für den Diskurs über Chancen, eigene Fehler, Korrekturen und neue Möglichkeiten. Die Probleme nicht ideologisch wegzudrücken, sondern klar und deutlich anzusprechen ist die Voraussetzung für das Finden von Lösungen. Ausserdem ist nicht alles so schlecht wie es schlechtgeredet wird.
Gegen die einseitige Erzählung vom Scheitern
Die Klimapolitik der letzten Dekade blieb unter ihren Möglichkeiten, doch die Bilanz ist belastbar: Die Emissionen liegen rund 48 % unter 1990; eine Minderung um 65 % bis 2030 erscheint erreichbar. 59,4 % der Bruttostromerzeugung stammten 2024 aus Erneuerbaren (2021: 40 %). Der Ausstieg aus der Kernenergieproduktion ist vollzogen, auch wenn die Endlagerfrage ungelöst bleibt. Der EU-Emissionshandel wurde europäisiert und gestärkt. Das Handwerk trägt – zu selten gewürdigt – Effizienz, Reparaturfähigkeit und Ressourcenschonung. Transformation erfasst neue Felder: Gesundheitswirtschaft, Sport (Verbände und Clubs mit messbaren Nachhaltigkeitskriterien), Kultur (öffnet sich systematisch für Nachhaltigkeitskonzepte).
Der Markt bewegt sich spürbar: Publikums- und Spezialfonds mit Nachhaltigkeitsprofil summierten sich Ende 2023 auf 905 Mrd. € – etwa ein Zehntel des Geldvermögens privater Haushalte. Die Umweltindustrie beschäftigt 376.000 Menschen und erzielt jährlich weit über 100 Mrd. € Umsatz. Der Bio-Konsum hat sich binnen zehn Jahren verdoppelt. Gleichzeitig subventioniert der Staat energieintensive Industrie-Dekarbonisierung, verzichtet aber auf das schlichte, kostengünstige Instrument Tempolimit – ein Symptom für unausgeschöpfte Potenziale. Die inhaltlichen Debatten – vom Strommarktdesign über Energiepolitik bis zu Biolandbau und Kreislaufwirtschaft – sind lebendig. Junge Leute gründen innovative Firmen.

"Nachhaltigkeit und Klimaschutz:
Kann das weg oder kommt das erst?"
Aufschub ist Sabotage: Warum Verschieben Probleme vergrößert.
Ökosysteme folgen Kipppunkt-Dynamiken; kleine Änderungen können Systeme irreversibel kippen. Die Arktis erwärmt sich ungefähr viermal so schnell wie der Rest des Planeten – mit Folgen für Rohstoffkonflikte, die Nordwestpassage und die Stabilität großräumiger Wettersysteme. „Später“ heißt teurer, riskanter, unfreier. Nachhaltigkeit ist weder ein Ökonebenfach noch die Bühne für Ideologie-Rituale; zeitgemäß ist ein Narrativ, das Freiheit, Verantwortung, Sicherheit und kalkuliertes Risiko mit der Lust auf Leben verbindet – nicht als rhetorische Figur, sondern als Gestaltungslinie.
Dauerkrise, Misstrauen und die Erosion des Politischen.
Die Stimmung ist schriller und ängstlicher geworden; zwischen Veränderungswillen und dem Wunsch nach Kontinuität hat sich ein Riss aufgetan. Dieser Riss belastet auch unser Engagement für die Plattform Nachhaltigkeitspreis. Politik reagierte auf Klima-, Migrations-, Finanz- und Pandemiekrisen oft mit Hoffnung auf rasches Abklingen und punktuellen Entlastungen – weniger mit Ursachenbearbeitung. Das Ergebnis ist eine erlebte „Immer-Krise“, ein Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens und ein schwindender Alltagskonsens. Organisationen richten sich im Konflikt ein und profitieren von ihm, statt ihn zu lösen. Vorschnelle und generelle Vorwürfe, denen zufolge alles wirtschaftliche Engagement für die Natur letztlich unehrlich sei und nur grün getüncht sei, schrecken auch seriöse Unternehmen ab, ihr Engagement zu zeigen. Der generelle Pranger schürt das Misstrauen gegen jede Transformation.
Regeln: unverzichtbar – und häufig falsch kalibriert.
Ohne legitimierte Ordnungsrahmen verbreiten sich Umwelt- und Sozialstandards nur selektiv, selbst wenn sie nützen. Wirksamer als reine Verordnung sind hybride Rahmen, die Werte, gelebte Überzeugungen und selbstbindende Vereinbarungen der Akteure bündeln. Regeln dürfen vorläufig und experimentell sein, sofern die Prozesskontrolle bleibt; geht sie verloren, verliert auch der Inhalt an Gewicht. Für das nachhaltige Wirtschaften bedeutet das: Der schmale Grat zwischen Pionierpfad, Sonderweg und Rutschbahn verlangt Führung und Fachkompetenz – weniger Checklisten, mehr Ergebnisverantwortung.
Datenwut und Anti-ESG: Wie Übersteuerung Gegenkräfte stärkt.
Die EU schwenkt vom Green Deal zum Clean Industrial Deal: Industrie stärken, grüne Produkte beschleunigen – während die politisch schwierigeren Sektoren Landwirtschaft, Gebäude, Mobilität vorerst ausgespart werden. Parallel baut das Omnibus-Verfahren vier Leuchttürme ab – CSRD (Nachhaltigkeitsbericht), CSDDD (Sorgfalt in Lieferketten), EU-Taxonomie und CBAM (CO₂-Grenzausgleich). Es ist keine Frage: Eine Entfrachtung überkomplexer Anforderungen ist notwendig; aber man darf die Innovation nicht genau in dem Moment schwächen, in dem effizientere, günstigere Verfahren technisch möglich sind und Wettbewerbsvorteile versprechen. Die Konkurrenz lacht sich schlapp. Bei den Vorgaben zur Berichterstattung schaffen erst das intelligente Datenmanagement, das Zulassen von Schätzmethoden, mehr sektortypische Standards und abgestufte Datenqualitäten jenen Wettbewerb, den wir brauchen. Mit uniformer Zwangsprosa und mit KI gebauten Sammelwerken kommen wir nicht voran.
Raus aus der Verfahrensstarre: Wesentlichkeit anwenden, Überflüssiges streichen.
Unternehmen sind der Bürokratie nicht ausgeliefert. Als wesentlich sollte nur das berichtet werden, was für Steuerung der Risiken und Chancen des Geschäfts wichtig ist; anderes sollte ausdrücklich depriorisiert werden. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex bietet seit 2010 ein praxistaugliches, aktualisiertes und kostenfreies Raster. Niemand muss „blind“ zu allen rund 1.200 Datenpunkten berichten, wenn eine deutlich kleinere, sachlich begründete Auswahl Wirkung, Risiken und Chancen abbildet. Etwas als nicht-wesentlich zu bezeichnen, ist unpopulär, weil es interne Besitzstände berührt. Aber es führt kein Weg darum herum, denn wer alles und jedes wichtig nennt, produziert zwangsläufig Bürokratie und verliert am Ende Substanz.
Wesentliches zu erkennen, belohnt die innerbetriebliche Ambition, schafft Qualitäten und erhöht die Sichtbarkeit der gemeinsamen Ziele.
Klimaneutralität 2045: Wegmarke – nicht Wunschkonzert.
Der Ruf nach Aufschub – „zu teuer, zu viel, in der Krise unzumutbar“ – verkennt die Logik von Investitionen und Risiko: Unternehmen benötigen verlässliche Leitplanken, nicht kalendarische Ausweichmanöver. Klimaneutralität bis 2045 ist eine solche Wegmarke; das Bekenntnis der Bundesregierung zur Nachhaltigkeitsstrategie, zur Kreislaufwirtschaft und zum Einstieg in Offsetting und Insetting ist wichtig. Jetzt muss auf europäischer Ebene engagiert nachgeschoben werden, damit Europa bei den anstehenden Vertragsstaatenkonferenz in Brasilien mitreden kann. Ein Wanken würde global als Signal zur Erosion des Pariser Abkommens gelesen. Wer verschiebt, verliert – ökonomisch, politisch, technologisch.
Realistisch betrachtet ist vollständige Klimaneutralität in vielen Branchen physikalisch, wirtschaftlich und sozial nur erreichbar, wenn maximale eigene Dekarbonisierung durch CO₂-Festlegung mittels naturbasierter und technischer Verfahren ergänzt wird – in Böden, Mooren, Wäldern, Mangroven oder Seegraswiesen. Mess- und Überwachungstechnik sind robuster und erlauben integritätsgesicherte Märkte entstehen zu lassen. Das kann das Klima, die Biodiversität und die lokale Lebensgrundlagen von Menschen zugleich stärken. Öffentlichkeit und Markt misstrauen den Carbon Credits, also dem Handel mit Klimakompensationen. Zu Recht, denn in der Vergangenheit wurde allzu oft Schindluder getrieben. Um Vertrauen in die mehrheitlich dennoch guten und sinnvollen Projekte zu schaffen, sind auch neue politische, treuhänderische Verfahren zu entwerfen.
Gesellschaften halten durch äußere Bedrohung oder innere Kultur zusammen. Heute zählt die Kultur: eigenverantwortliches Handeln für das Ganze, Kooperation trotz Gegensätzen. Der Druck zur Veränderung kommt entweder vom Klimawandel (dann ist es ein Erleiden) oder vom Klimaschutz (dann ist es ein Gestalten). Gestaltung stiftet Widerstandskraft, Freiheit und Sinn; Erleiden fördert Zwang, Leid und Unfrieden. Die Wahl dürfte eigentlich nicht schwer fallen.
